Entwicklung der Menschenrechtssituation - Kritik an Deutschland während der Corona-Pandemie
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Das Institut für Menschenrechte hat heute seinen Bericht "Entwicklung der Menschenrechtssituation in Deutschland Juli 2019 – Juni 2020" vorgestellt, der an die Bundesregierung geht. Dabei geht es unter anderem um Menschenrechtliche Fragen im Kontext der Corona-Pandemie, Abschiebung kranker Menschen, berufliche Ausbildung von Jugendlichen mit Behinderungen sowie die Umsetzung des Nationalen Aktionsplans Wirtschaft und Menschenrechte (NAP): Das sind Themen des 5. Berichts zur Entwicklung der Menschenrechtssituation in Deutschland, den das Deutsche Institut für Menschenrechte heute in Berlin vorgestellt hat. Der Berichtszeitraum ist Juli 2019 bis Juni 2020.
„Zu Beginn der Corona-Pandemie hat der Bundestag sich selbst die Befugnis vorbehalten, Anfang und Ende einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite festzustellen. Das war ein wichtiges Zeichen, dass Exekutive und Legislative gemeinsam für Wahrung und Schutz der Grund- und Menschenrechte verantwortlich sind“, erklärte Beate Rudolf, Direktorin des Instituts. „Je länger die Pandemie andauert, desto dringlicher ist es, dass Bundestag und Landtage über die Maßnahmen zum Schutz der Menschen vor COVID-19 entscheiden. Die Reform des Infektionsschutzgesetzes vom November dieses Jahres war ein erster wichtiger Schritt“, so Rudolf weiter.
Nach Ansicht der Institutsdirektorin sollte der Bundestag die Maßnahmen, die Bund und Länder im Kontext der Pandemie ergreifen dürfen, jedoch präziser fassen. Als Beispiele führte Rudolf aus: „Der Bundestag sollte klarstellen, dass Eltern der Kontakt zu ihren erkrankten Kindern nicht verboten werden darf – weder im Krankenhaus noch bei häuslicher Quarantäne. Ebenso sollte der Bundestag vorschreiben, dass Pflegeheime Besuchsverbote nur nach Abstimmung mit dem Gesundheitsamt verhängen dürfen.“
Rudolf forderte zudem, dass der Bundestag über die Kriterien entscheiden soll, nach denen Menschen Zugang zu intensivmedizinischer Versorgung erhalten, wenn die vorhandenen Betten nicht für alle ausreichen („Triage“). „Der Bundestag muss sicherstellen, dass die Entscheidung nicht pauschal zu Lasten alter oder behinderter Menschen ausfällt. Die Befassung des Deutschen Ethikrates mit der Frage der Triage enthebt das Parlament nicht seiner Verantwortung in dieser überlebenswichtigen menschenrechtlichen Frage“, betonte Rudolf.
Der Menschenrechtsbericht (6943 kb) befasst sich vertieft mit zwei Themen, die Menschen in verletzlichen Lebenssituationen in den Blick nehmen:
Abschiebung kranker Menschen: Verfassungsrechtliche Bedenken
Menschen, die in Deutschland Schutz suchen, dürfen nicht abgeschoben werden, wenn sich ihr Gesundheitszustand durch die Abschiebung gravierend verschlechtern wird oder gar ihr Leben gefährdet ist. Dies verbieten die Grund- und Menschenrechte und das völkerrechtliche Verbot der Zurückweisung. Die Untersuchung des Instituts zeigt: Betroffene, die ihre Erkrankung den Behörden nachweisen müssen, um nicht abgeschoben zu werden, scheitern in der Praxis an Zeitmangel wegen beschleunigter Asylverfahren, an rechtlichen, bürokratischen, sprachlichen und finanziellen Hürden.
„Auch wenn die Betroffenen darlegen müssen, dass sie krank sind, bleiben die Behörden verpflichtet, den Sachverhalt aufzuklären. Sie dürfen ihre Sachaufklärungspflicht nicht auf die Betroffenen abwälzen. Der Staat hat hier eine klare Schutzpflicht und muss gründlich prüfen, ob ein krankheitsbedingtes Abschiebungshindernis vorliegt“, so Rudolf. „Die gesetzlichen Nachweispflichten in Paragraf 60a, Absatz 2c und 2d Aufenthaltsgesetz sind verfassungsrechtlich bedenklich und sollten durch den Bundestag abgeändert werden“, sagte Institutsdirektorin Rudolf. Ein großes Problem sieht das Institut auch bei Abschiebungen aus der stationären Behandlung in einem Krankenhaus oder einer Psychiatrie. Sie seien stets ein schwerer Eingriff in die Rechte der Betroffenen und unverhältnismäßig, heißt es im Menschenrechtsbericht.
Anerkannte Berufsausbildung von Jugendlichen mit Behinderungen
Die Berufsausbildung ist der Schlüssel zu ökonomischer Unabhängigkeit, zu selbstbestimmter Lebensgestaltung und zu Teilhabe am sozialen Leben. Doch 80-90 Prozent der Jugendlichen mit Behinderungen absolvieren eine Ausbildung in „Sonderformen“ ohne anerkannte Abschlüsse. Die Folge: Vielen Jugendlichen mit Behinderungen bleibt der Übergang in den regulären Arbeitsmarkt verwehrt. Daran haben bisher auch die zentralen Gesetze – das Berufsbildungsgesetz und die Handwerksordnung – wenig geändert. Das Institut hat für den Menschenrechtsbericht Modellprojekte untersucht, die gute Ansätze liefern, um die inklusive Berufsausbildung voranzutreiben.
„Gesetzgeber, Schulen, Arbeitsagenturen und Unternehmen müssen konsequent von den Jugendlichen aus denken und ihrem Recht auf inklusive Berufsausbildung aus der UN-Behindertenrechtskonvention. Das beginnt bei einer vorurteilsfreien Beratung zum Schulende, geht über eine Flexibilisierung von Ausbildungen durch die Angebote von Teilzeitausbildung, Modulen oder Teilabschlüssen bis hin zu barrierefreien Arbeits- und Ausbildungsstätten. Dazu gehören auch Schulungen für Ausbildende zum Umgang mit Jugendlichen mit unterschiedlichen Behinderungen“, erklärte Institutsdirektorin Rudolf. „Zwei parallele Ausbildungssysteme – eines für Menschen ohne und eines für Menschen mit Behinderungen – sind mit den menschenrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands nicht vereinbar.“
Der Menschenrechtsbericht bewertet auch die Umsetzung des Nationalen Aktionsplans für Wirtschaft und Menschenrechte (NAP). Drei Ressorts der Bundesregierung hatten angekündigt, im Sommer 2020 ein Eckpunktepapier für ein Sorgfaltspflichtengesetz („Lieferkettengesetz“) vorzulegen. Die Eckpunkte liegen bisher nicht vor. „Wir halten die Einführung eines Sorgfaltspflichtengesetzes neben den bereits bestehenden, freiwilligen Maßnahmen zur Unterstützung von Unternehmen bei der Beachtung menschenrechtlicher Sorgfalt für sinnvoll und notwendig. Dieser Instrumentenmix soll dazu beitragen, den Schutz von Betroffenen in globalen Liefer- und Wertschöpfungsketten zu verbessern. Ein verbindlicher Standard ist auch hilfreich, um Rechtssicherheit und gleiche Bedingungen für alle Unternehmen zu schaffen“, so die Einschätzung des Instituts.
Zum vorgestellten Bericht des Deutschen Instituts für Menschenrechte (DIMR) über die Entwicklung der Menschenrechtssituation in Deutschland erklären Margarete Bause (Bündnis 90/Die Grünen), Sprecherin für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, und Kai Gehring (Bündnis 90/Die Grünen), Mitglied im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe:
Margarete Bause, Sprecherin für Menschenrechte und humanitäre Hilfe:
„Geflüchtete sind besonders schutzbedürftig, allerdings werden ihnen auch in Deutschland immer wieder grundlegende Schutzrechte vorenthalten. Kranke oder schwer traumatisierte Menschen haben ein Recht auf angemessene medizinische Versorgung. Mit menschenrechtlichen Prinzipien nicht vereinbar ist es, wenn solche hilflosen Personen sogar direkt aus dem Krankenbett abgeschoben werden.
Die von uns kritisierten Gesetzesänderungen der vergangenen Jahre haben zu deutlichen Verschärfungen geführt; so werden Krankheiten nicht mehr ausreichend im Asyl- und Aufenthaltsverfahren berücksichtigt. Überdies stoßen Kranke in sogenannten AnkER-Zentren oder Abschiebehaftanstalten oft auf unüberwindliche Hürden beim Zugang zu Beratung und medizinischer Hilfe. In der Folge droht die Abschiebung trotz schwerer Krankheit. Damit nehmen Bundes- und viele Landesbehörden erhebliche Gefahren für Gesundheit und Leben von Geflüchteten in Kauf. Diese menschenrechtlich hochproblematische Praxis muss bundesweit untersagt werden.
Derzeit müssen Geflüchtete selber nachweisen, dass sie krank sind und im Herkunftsland nicht ausreichend behandelt werden können. Wir fordern, dass wieder die Behörden beweispflichtig sind. Daneben unterstützen wir die Forderung des DIMR, an allen deutschen Flughäfen, von denen Abschiebeflüge starten, Beobachtungsstellen einzurichten. Die Bundesregierung muss im Umgang mit Geflüchteten auf allen Ebenen die Einhaltung der Menschenrechte und der internationalen Flüchtlingskonventionen wahren und durchsetzen.“
Kai Gehring, Mitglied im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe:
„Menschen mit Behinderung haben dieselben Rechte wie alle anderen. Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention 2009 hat Deutschland sich verpflichtet, die speziellen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung zu berücksichtigen, damit ihr Recht auf ein selbstbestimmtes Leben gewährleistet ist. Dass das DIMR auch zehn Jahre später dem Bund, Ländern und Unternehmen hohen Nachholbedarf bei der Inklusion von Jugendlichen mit Behinderung in der Berufsbildung bescheinigt, ist eine Schande. Universelle Menschenrechte müssen gelebt werden, anstatt nur auf dem Papier zu gelten.
Die Diskussionen über Inklusion in der beruflichen Bildung in Deutschland stehen noch am Anfang, der Bericht des DIMR setzt hierfür einen wichtigen Impuls. Damit Menschen mit Behinderung den Weg in ein reguläres Ausbildungsverhältnis und den ersten Arbeitsmarkt schaffen, müssen Hürden beseitigt und Inklusion gestärkt werden. Ein wichtiger Schritt wäre beispielweise, durch Reformen der Arbeitsstättenverordnung und der Landesbauordnungen für barrierefreie Ausbildungs- und Arbeitsplätze zu sorgen.
Wir treten für eine inklusive Gesellschaft ein. Alle Menschen sollen gleichberechtigt Zugang zu allen Lebensbereichen haben und selbstbestimmt, gemeinsam mit nichtbehinderten Menschen leben, lernen und arbeiten können.“
Frank Schwabe(SPD), menschenrechtspolitischer Sprecher:
„Wie jedes Jahr legt das Deutsche Institut für Menschenrechte in seinem Bericht an den Bundestag den Finger in die Wunde mangelnder Menschenrechtsstandards in Deutschland. Das ist gut so. Zurecht fordert das Institut, dass behinderten Jugendlichen der Weg in ein reguläres Ausbildungsverhältnis geebnet werden muss. Dazu bedarf es besserer Beratung im Vorfeld, flexiblerer Ausbildungsgänge und barrierefreier Arbeits- und Ausbildungsstätten. Zudem unterstützt die SPD-Fraktion im Bundestag die Forderung des DIMR, keine erkrankten Asylbewerberinnen und Asylbewerber abzuschieben. Es hat sich gezeigt, dass die Regelungen im Aufenthaltsgesetz, nach denen eine die Abschiebung beeinträchtigende Erkrankung seitens der Antragstellenden durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft gemacht werden muss, praxisfremd sind. Die so geregelte Darlegungslast überfordert Menschen, die sich in einer extrem hilflosen Situation befinden. Die prüfende Behörde muss daher ihrer Sachaufklärungspflicht nachkommen und bei entsprechenden Anzeichen zum Schutz der Antragstellenden tätig werden. Die Länder sind dringend aufgefordert, Vorgaben zur menschenrechtskonformen Ausgestaltung der Abschiebung zu machen. Des Weiteren ist eine unabhängige Abschiebungsbeobachtung erforderlich. Die SPD-Fraktion im Bundestag dankt dem Deutschen Institut für Menschenrechte für die steten neuen Impulse. Zurecht genießt das Institut für seine Arbeit international höchste Anerkennung.“
Autor: kk / © EU-Schwerbehinderung