Vermerk gegen Atomkraft unterschiedlich bewertet
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Die Auswirkungen des Weiterbetriebs der letzten drei deutschen Kernkraftwerke bis Mitte April 2023 auf Strompreise und Versorgungssicherheit sind nach Auffassung mehrerer Sachverständiger als eher gering zu bezeichnen. Dies wurde in einer Anhörung des 2. Untersuchungsausschusses unter Leitung des Vorsitzenden Stefan Heck (CDU) am Donnerstag deutlich. Andere Sachverständige kritisierten einen gemeinsamen Prüfvermerk von Umwelt- und Wirtschaftsministerium gegen den Weiterbetrieb der Atomanlagen, weil dieser unwahre Behauptungen enthalte.
Professor Marc Oliver Bettzüge (Universität zu Köln) sagte, die Analyse der Wirkungen des Streckbetriebs der drei verbliebenen deutschen Kernkraftwerke zeige insgesamt eher geringe Effekte. Die preisdämpfende Wirkung sei schon vorher als gering eingeschätzt worden und sei tatsächlich noch geringer gewesen. Die Versorgungssicherheit hätte von Januar bis April 2023 auch ohne den Streckbetrieb der Kernkraftwerke gewährleistet werden können. Auch ohne Streckbetrieb wäre man weit von einer kritischen Situation entfernt gewesen. Das sei auch Folge des verhältnismäßig milden Winters gewesen.
Professorin Veronika Grimm (Technische Universität Nürnberg) sagte, die Situation sei damals sehr günstig gewesen: Der Winter sei nicht so kalt, die Gasspeicher seien gefüllt gewesen. Trotzdem hätte durch mehr Erzeugungskapazität in Deutschland ein Preiseffekt erzielt werden können.
Von einer nur geringen Auswirkung auf die Strompreise durch den Streckbetrieb sprach Felix Christian Matthes (Öko-Institut). In den Monaten Januar bis April 2023 habe der Weiterbetrieb insgesamt zu einer Senkung des Großhandelspreises von insgesamt rund 1,1 Prozent geführt. Die Effekte auf den Gasverbrauch und für die Versorgungssicherheit durch den Weiterbetrieb seien gering gewesen.
Auch Professorin Claudia Kemfert (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung) erklärte, es seien keine signifikanten Auswirkungen auf das Stromsystem durch den Atomausstieg beobachtet worden. Die Kapazitäten in Deutschland seien ausreichend gewesen. Instabilitäten im Stromnetz habe es nicht gegeben. Kemfert zog in ihrer Stellungnahme das Fazit: „Die Abschaltung der Kernkraftwerke war gerechtfertigt, die Versorgungssicherheit war jederzeit gewährleistet, weder Strompreise noch Emissionen sind gestiegen.“ Ein Weiterbetrieb über das Frühjahr 2023 hinaus sei nicht notwendig gewesen.
Der ehemalige Universitätsprofessor und Ministerialdirektor Wolfgang Renneberg ging insbesondere auf die in allen drei Anlagen wegen der vorgesehenen Abschaltung zum Jahresende 2022 nicht mehr durchgeführten Periodischen Sicherheitsüberprüfungen (PSÜ) ein. Ohne die Ergebnisse der Sicherheitsüberprüfungen hätten Aussagen über die Sicherheit der Anlagen nicht abschließend getroffen werden können, erläuterte Renneberg. Eine weitere gesetzliche Suspendierung der zehnjährigen Sicherheitsüberprüfung hätte somit ein Loch in das geltende Sicherheitskonzept gerissen. „Wenn wir auf dieses Verfahren verzichten, reduzieren wir die Sicherheit selbst“, sagte Renneberg. Die in Frankreich im Oktober 2021 festgestellte Spannungsrisskorrosion an Schweißnähten in den Sicherheits-Einspeisungsleitungen einiger neuerer Kernkraftwerke zeige beispielhaft, welche Bedeutung ein Verzicht auf die umfassenden Sicherheitsüberprüfungen haben könne. Renneberg bezeichnete die Bewertungen im gemeinsamen Vermerk der Ministerien vom 7. März 2022, in dem ein Weiterbetrieb der Kernkraftwerke als sicherheitstechnisch nicht vertretbar eingestuft worden war, als in jedem Falle richtig.
Ulrich Waas, ehemaliges Mitglied der Reaktor-Sicherheitskommission, zeigte sich dagegen von dem Vermerk, der in einer „Hauruck-Aktion“ entstanden sei, enttäuscht. Informationen von den wesentlichen Sachkennern hinsichtlich technischer, sicherheitstechnischer und energiewirtschaftlicher Aspekte seien nicht oder nur bruchstückhaft eingeholt worden. Es würden massive Zweifel bestehen, „ob eine umfassende und ergebnisoffene Prüfung überhaupt gewollt war“. Das von den beiden Ministerien projizierte „Drohszenario“ („unüberschaubare Verfahren und Kosten“) baue wesentlich auf unzutreffenden oder bewusst „irreführenden Behauptungen“ auf. Es sei vielmehr zu erwarten gewesen, dass bei einem Weiterbetrieb nach damaligem Kenntnisstand keine Probleme auftauchen würden.
Anna Veronika Wendland (Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung - Institut der Leibniz-Gemeinschaft) bezeichnete in ihrer Stellungnahme eine Laufzeitverlängerung als eine sehr bedeutende und auch zu relativ günstigen Kosten zu erzielende Einzelmaßnahme auf dem Gebiet des Klimaschutzes. Der Preissenkungseffekt für den deutschen Strommarkt wäre hingegen moderat gewesen. Sicherheitstechnisch und nach Rechtslage wäre eine Laufzeitverlängerung „vertretbar und durchführbar“ gewesen. Die beteiligten Akteure im Umwelt- und im Wirtschaftsministerium hätten 2022 in offiziellen Dokumenten und öffentlichen Äußerungen „nachweislich und systematisch unwahre Aussagen über den Sicherheitszustand und die Laufzeitverlängerungs-Optionen der deutschen Kernkraftwerke“ gemacht. Dabei hätten die deutschen Kernkraftwerke international den Ruf gehabt, „Benchmark“ zu sein und seien standardbildend gewesen.
Autor: Bundestag/hib | © EU-Schwerbehinderung/Deutscher Bundestag