„Kranke Pflegekräfte helfen uns nicht weiter“: Pflegereport 2020 vorgestellt
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Pflegekräfte sind hohen körperlichen und psychischen Belastungen ausgesetzt. Das führt zu einem schlechteren Gesundheitszustand und zu mehr Ausfällen wegen Krankheit.
Die Bremer Autoren, die Gesundheitsökonomen Professor Heinz Rothgang, Dr. Rolf Müller und Benedikt Preuß, haben für den aktuellen Report Daten aus der Pflegestatistik und Routinedaten der BARMER wissenschaftlich ausgewertet.
„Pflegekräfte sind einer größeren Arbeitsbelastung ausgesetzt als andere Berufsgruppen. Dies führt zu einem höheren Krankenstand. Aber kranke Pflegekräfte helfen uns nicht weiter“, betont Professor Rothgang. Er fordert daher ein Umdenken in der Pflegepolitik: mehr Personal.
Vielfach erhöhte Belastungen in der Pflege
Für Pflegekräfte wurden in vielen Bereichen erhöhte Belastungen festgestellt. Rund 92 Prozent der Altenpflegefachkräfte arbeiten häufig im Stehen (im Vergleich zu 47 Prozent in sonstigen Berufen). Häufiges Heben und Tragen von schweren Lasten wird von 76 Prozent der Altenpflegefachkräfte berichtet (gegenüber 15 Prozent in sonstigen Berufen). Deutlich häufiger sind zudem das Arbeiten in Zwangshaltungen (45 Prozent zu 11 Prozent). Von den Altenpflegefachkräften geben 52 Prozent an, häufig Vorschriften bezüglich der Mindestleistung oder der Zeit für bestimmte Arbeiten zu haben (im Vergleich zu 27 Prozent in den sonstigen Berufen). Häufig unter Termin- und Leistungsdruck stehen 63 Prozent (Vergleichsgruppe: 50 Prozent). Dass sie häufig sehr schnell arbeiten müssen, berichten 53 Prozent im Vergleich zu 39 Prozent der sonstigen Beschäftigten. Und 31 Prozent der Altenpflegefachkräfte geben an, häufig bis an die Grenze der Leistungsfähigkeit zu gehen (16 Prozent bei den sonstigen Berufen). All dies wird auch von den Pflegekräften häufiger als belastend empfunden als von den Beschäftigten in sonstigen Berufen.
Schlechterer Gesundheitszustand bei Pflegekräften
Korrespondierend zur Arbeitsbelastung stellen die Autoren des Reports für Pflegekräfte einen insgesamt schlechteren Gesundheitszustand fest. Sowohl aus Befragungsergebnissen als auch bei den Analysen der ambulanten Diagnosen, der Fehlzeiten, der Arzneimittelverordnungen und der Krankenhausaufenthalte sind Pflegekräfte bei Erkrankungen des Bewegungsapparates und bei den psychischen und Verhaltensstörungen in höherem Ausmaß betroffen. Obwohl die Belastungen von Altenpflegefachkräften und Altenpflegehilfskräften sich in vielen Bereichen sehr ähneln, ist der Gesundheitszustand der Hilfskräfte schlechter als der der Fachkräfte.
Sehr viel Pflegepersonal fällt krankheitsbedingt aus
Für Altenpflegefachkräfte wurde ein Krankenstand von 7,2 Prozent ermittelt. Bei den entsprechenden Hilfskräften lag dieser sogar bei 8,7 Prozent. In den sonstigen Berufen wurde dagegen ein Krankenstand von 5,0 Prozent verzeichnet. Aus der Multiplikation der Differenz im Krankenstand mit der Zahl der beschäftigten Pflegekräfte resultiert die Arbeitszeit, die überdurchschnittlich durch krankheitsbedingte Fehlzeiten am Arbeitsplatz verloren ging. Diese überdurchschnittlich verlorengegangene Arbeitszeit beläuft sich auf das Ausmaß der Arbeitszeit von gut 24.000 Pflegekräften im Jahr 2017.
Von 1.000 Altenpflegefachkräften gehen durchschnittlich 3,9 innerhalb eines Jahres in die Erwerbsminderungsrente, bei den Altenpflegehilfskräften sind es 6,0 von 1.000 und bei den sonstigen Berufen 3,0 von 1.000. Aus der überdurchschnittlichen Frühverrentung resultieren fast 2.000 verlorene Pflegekräfte im Jahr 2017. In der Summe von überdurchschnittlichen krankheitsbedingten Fehlzeiten und überdurchschnittlichen Eintritten in die Erwerbsminderungsrente ergibt sich das Ausmaß der Erwerbszeit von 26.000 Pflegekräften, die allein im Jahr 2017 verloren ging.
Kein Weg führt an mehr Personal vorbei
„Derzeit ist die eingesetzte Pflegepersonalmenge nicht ausreichend, um eine fachgerechte Pflege und gesundheitsförderliche Arbeitsbedingung für das Pflegepersonal zu gewährleisten“, betont Professor Heinz Rothgang. Die resultierende Arbeitsverdichtung führe zu einer überdurchschnittlichen Belastung und zu negativen gesundheitlichen Auswirkungen. Die daraus entstehenden vermehrten Fehlzeiten und Berufsaustritte verstärkten den Pflegenotstand. Dies führe für die verbleibenden Pflegekräfte wiederum zur Erhöhung der Arbeitsbelastung. „Diesen Teufelskreis gilt es zu durchbrechen“, fordern die Autoren der Studie, „wenn die Pflege dauerhaft qualitätsgesichert geleistet werden soll. Dafür braucht es mehr Personal.“
„Unterfinanzierte Pflege macht krank – auch die Pflegekräfte selber“, fasst Pia Zimmermann, Sprecherin für Pflegepolitik der Fraktion DIE LINKE, die Ergebnisse des Barmer Pflegereports 2020 zusammen. „Deutlich höhere Fehlzeiten durch Krankheit, Rückenschmerzen, Depressionen bis hin zu hohen Zahlen von Erwerbsminderungsrente, weil kaum eine Altenpflegefachkraft bis zum Renteneintrittsalter durchhalten kann: Der Pflegereport liest sich wie eine Anklageschrift der Pflegekräfte Richtung Bundesregierung. Rechnerisch wären bei guten Arbeitsbedingungen demnach 26.000 Pflegekräfte mehr im Einsatz. Das Gesundheitsministerium muss endlich für gute Arbeitsbedingungen in der Pflege sorgen, damit die, die uns pflegen, nicht morgen selber gepflegt werden müssen.“ Pia Zimmermann weiter:
„Die Auswertung der Barmer beweist, dass große Teile des hiesigen Pflegenotstands von den Bundesregierungen der letzten zwanzig Jahre hausgemacht sind. Diese schlechten Bedingungen werden bewusst beibehalten, um die Kosten für die Pflege niedrig zu halten. Das ist zynisch, denn den Preis zahlen andere: die Menschen mit Pflegebedarf sowie die Patientinnen und Patienten und zu einem großen Teil die Pflegekräfte selber. Nur mit einer wirklichen Reform der Pflegefinanzierung, die die Lasten der Pflegekosten endlich auf breite Schultern verteilt, kann hier gegengesteuert werden. So lassen sich gute Arbeitsbedingungen und damit gute Pflege solide und solidarisch zugleich finanzieren.“
Zum heute (01.12.2020) vorgestellten BARMER-Pflegereport 2020 „Wie krank sind Deutschlands Pflegekräfte?“ betont Franz Wagner, Präsident des Deutschen Pflegerats e.V. (DPR):
„Der Fachpersonenmangel in der Pflege ist dramatisch. Die Corona-Pandemie hat diesen Engpass für eine gute pflegerische Versorgung mehr als deutlich gemacht. Der Pflegereport 2020 der BARMER bestätigt die besorgniserregenden Folgen für viele Pflegefachpersonen, die aus der Belastung resultieren und auf die der Deutsche Pflegerat seit langem hinweist. Der Report bestärkt noch einmal die Dringlichkeit der Behebung der Ursachen. Das duldet keinen Aufschub mehr.
Denn die Ursachen für die prekäre Lage sind bekannt: Es ist die extrem hohe körperliche und psychische Belastung in den Pflegeberufen. Diese wird vor allem durch die zu niedrige Personalausstattung in allen Sektoren der pflegerischen Versorgung verursacht.
Die Folgen sind überdurchschnittlich hohe Ausfallzeiten durch Krankheit - u.a. wegen Rückenschmerzen - und die im Pflegereport beschriebene häufigere Verordnung von Schmerzmitteln und Antidepressiva. Die Systemrelevanten sind krank! Die besonders hohe Quote bei Hilfskräften in der Altenpflege belegt zudem, dass bei einer niedrigeren beruflichen Qualifikation anscheinend auch die Fähigkeit, mit den Belastungen umzugehen, geringer ausgeprägt ist. Das ist ein weiteres Argument für eine qualifizierte Pflegeassistenzausbildung.
Solange sich die Arbeitsbedingungen der Pflegenden nicht umfassend verbessern, werden sich auch die jetzt im Report genannten Zahlen nicht verändern. Wir brauchen dringend zeitnah und nachhaltig mehr qualifiziertes Pflegepersonal in allen Sektoren und wir müssen darüber hinaus die Pflegenden dabei unterstützen, mit dem berufsbedingten Stress umzugehen. Das verlangt ein ganzes Maßnahmenbündel: Organisation der Arbeitszeiten mit einem verlässlichen Dienstplan, betriebliche Gesundheitsförderung, Investition in Aus- und Fortbildung sowie Unterstützung der Pflegeleitungen zur Erfüllung ihrer Führungsaufgaben.“
Zum Barmer-Pflegereport erklärt Kordula Schulz-Asche (Bündnis 90/Die Grünen), Sprecherin für Pflege- und Altenpolitik:
„Der Einsatz von Medikamenten ist Teil der Versorgung von pflegebedürftigen Menschen. Es ist allerdings ein Warnsignal, das wachrütteln sollte, wenn Pflegekräfte selbst immer häufiger nach Medikamenten greifen. Die überdurchschnittliche Verordnungshäufigkeit von Opioiden und Antidepressiva deutet darauf hin, dass viele Pflegekräfte physisch und psychisch überlastet sind. Der Medikationsbedarf ist dabei ein Symptom, die Arbeitsbedingungen sind aber wohl die Ursache.
Wir fordern die Bundesregierung deshalb auf, den Fachkräftemangel in der Pflege endlich entschiedener zu bekämpfen. Wo moderne Pflegekonzepte umgesetzt werden, ist die Arbeitsbelastung geringer. Wo Pflegekräfte nach alters- sowie geschlechtssensiblen Personalkonzepten eingesetzt werden, sinkt die persönliche Arbeitslast, während sich die Vereinbarkeit von Beruf und Familie erhöht. Wo wir die immensen Potenziale der Digitalisierung praxisnah nutzen, werden Pflegekräfte stärker entlastet.
Die Finanzierung von bis zu 20.000 Pflegehilfskraftstellen zur Entlastung des Fachpersonals kann nur dann ein Schritt in die richtige Richtung sein, wenn zum einen die Stellen tatsächlich besetzt werden und zum anderen die pflegerischen Tätigkeiten neu geordnet werden. Mehr Personal wird nur dann weiterhelfen, wenn Menschen entsprechend ihrer Ausbildung eingesetzt werden.
Zudem sehen wir mit Sorge, dass bei der Finanzierung der Stellen eine zu lange Zeit eingeräumt wird, bis eine Weiterbildung der Pflegehilfskräfte erfolgen muss. Eine gute Ausbildung, regelmäßige Fortbildungen und Gesundheitsförderung am Arbeitsplatz sind wichtige Bausteine der Gesundheitsvorsorge. Denn nur wer es gelernt hat, kann sich bei der Pflegearbeit auch selbst schützen.“
Autor: md / © EU-Schwerbehinderung