Was ich als Rollstuhlfahrerin gerne am Anfang gewusst hätte
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Wenn Dinge passieren, die wir nicht beeinflussen können, werden sie oft verdrängt, was dann wiederum zu Ablehnung und Widerstand in der persönlichen Haltung führen kann. Dieser Widerstand wirkt sich negativ aus. Denn: manche Situationen lassen sich nicht abwenden. Also muss man sich diesen Situationen stellen, wenn man weiterkommen will. Weiterkommen, weil man sonst Gefahr läuft, den Rest seines Lebens unglücklich zu sein.
Wenn der Rollstuhl plötzlich Teil Deines Lebens wird, ist Anpassung gefragt und oft ist das gar nicht so einfach. Anpassung verursacht Unsicherheit und Angst. Die natürliche Reaktion: Ablehnung. Ablehnung ist wie ein Widerstand gegen das, was ist. Je grösser der Widerstand umso schwieriger und langwieriger wird der Prozess. Wobei Widerstand völlig üblich ist, unterschiedliche Facetten hat und in den meisten Fällen gerade im Unterbewusstsein besonders hartnäckig ist.
Hier ein paar Tipps, die ich als Rolli-Fahrerin gerne vorher gewusst hätte:
Phasen
Es gibt ‘Phasen’, die man durchläuft und diese Phasen sind unterschiedlich lang, aber Teil des Prozesses, egal ob man plötzlich im Rollstuhl landet oder der Rolli ‘schleichend’ eine Notwendigkeit wird.
Wichtig zu wissen: Es ist ein Prozess.
Also sei geduldig mit Dir. Manche schaffen die gedankliche Umstellung - ’Der Rolli ist jetzt Teil meines Lebens und ich bin fein damit.’- von heute auf morgen. Die meisten nicht und das ist okay. Es hat keinen Zweck, sich zu ‘zwingen’ und dann zu verurteilen, dass es nicht klappt.
Wichtig zu wissen: es gibt Aufs…und Abs
Und Rückschläge. Nicht verzweifeln (obwohl es manchmal zum Verzweifeln ist), niemals aufgeben.
Wichtig zu wissen: Du bist in Trauer
Kennst du die Trauerphasen? Du hast zwar keinen Menschen verloren, aber gewisse Fähigkeiten, die dir wahrscheinlich lieb und teuer waren.
Diese Phasen sind denkbar:
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Schock und Verleugnung
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Wut und Frust
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Versuch, altes Leben aufrecht zu erhalten
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Depression
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Akzeptanz
Es ist wichtig zu beachten, dass diese Phasen nicht immer linear sind und dass jeder Mensch individuell unterschiedlich mit seiner neuen Lebenssituation umgeht. Professionelle Unterstützung und Begleitung, wie sie durch Psychologen oder Berater möglich ist, kann helfen, die Verarbeitung des Verlustes und die Anpassung an das neue Leben im Rollstuhl zu erleichtern.
Gefühle zulassen
Jeder Mensch hat Gefühle. Und die können ganz schön beängstigend und oft überwältigend sein. Auch RollstuhlfahrerInnen haben Gefühle. Und zusätzliche Herausforderungen, die wiederum Gefühle auslösen, die kaum jemand ohne Rollstuhlnutzung nachvollziehen kann. Ausnahme: sehr empathische Menschen. Die Gefühle in Bezug auf die Rolle eines ‚Menschen im Rollstuhl‘ können sehr unterschiedlich sein (Frustration, Isolation, Angst, Unsicherheit, Stolz, Empowerment). Wichtig: sich nicht für seine Gefühle verurteilen.
Außerdem passiert es schnell, dass man sich vergleicht. Nicht nur mit seiner ‘nicht im Rollstuhl sitzenden’ Umgebung, sondern- viel schlimmer - mit sich selbst vor Rollstuhlnutzung. Die Überlegung, wie sich das Leben ohne Rolli hätte entwickeln können, ist auch nicht unüblich. Es ist, als ob man Äpfel mit Birnen vergleicht. Eigentlich sagt der Verstand, dass das total dumm ist und trotzdem wird es fast wie automatisiert gemacht. Deshalb wichtig: (sich) nicht vergleichen.
Das ‘Geschenk’ suchen
Wenn man im Rollstuhl landet, erfolgt leider oft das, was man im Englischen mit ‘blame & shame’ bezeichnet: man verurteilt und schämt sich. Es erfolgt eine Aufzählung von Fragen, die typisch sind und gleichzeitig nur exemplarisch verdeutlichen, was im Kopf von jemandem abgeht, der plötzlich im Rolli sitzt:
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Warum passiert das mir? Warum ich?
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Was habe ich falsch gemacht?
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Hätte ich es verhindern können?
Statt sich in Selbstvorwürfen zu ergehen, die zu einer tiefen Depression führen können, kann man die negativen Gedanken ‚drehen'. Es gilt: Du h a s t Gedanken, Du b i s t sie nicht. Anders ausgedrückt: Glaub nicht immer den Gedanken, die Du hast. Beispiel: Wenn Du den Rollstuhl bisher ausschliesslich mit Unvermögen, Hilfsbedürftigkeit und Abhängigkeit in Verbindung gebracht hast, dann fokussiere Dich auf die Mobilität, die der Rollstuhl Dir ermöglicht und den Schutz vor üblen Stürzen. Wichtig: Du kannst Deine Sichtweise ändern.
Ist nicht einfach, aber machbar. Und braucht Zeit. Negative Aspekte sind damit nicht verschwunden. Sie werden weder ignoriert noch unterdrückt, sie werden nicht beachtet.
Gedanken beobachten
Am Tag hat man einige tausend Gedanken. Die meisten davon sind negativ. Gedanken sind meist unbewusst, aber sie bestimmen die Qualität des Lebens im Jetzt…und in der Zukunft. Wichtig: eigene Gedanken beobachten… und ersetzen.
Hier ein paar Vorschläge:
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Ich kann das.
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Es ist okay.
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Ich nehme Hilfe an und bin dankbar dafür..
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Ich denke ganz bewusst Gedanken, die mir gut tun.
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Ich akzeptiere (ohne, dass ich es gut finden muss)
Die Macht der Wiederholung
Wiederholen ist meist blöd und langweilig. In Köpfen kursiert der Begriff ‚Zeitverschwendung‘ . Viele schlaue Leute haben schon erkannt, dass Wiederholung total wichtig ist, um neue Gewohnheiten zu trainieren oder Routinen zu entwickeln. Also: auch wenn‘s schwerfällt und manchmal psychisch u./o. physisch weh tut -> Wichtig: wiederholen.
Aller Anfang ist schwer (wusste schon Goethe), aber auch aufregend. Es wird viel geredet, wenn der Tag lang ist. Umsetzung zählt. Tus für Dich selbst. Wichtig: tu es!
Autor: Natascha Höhn