Vorwurf gegen TV-Sender wegen ableistischer Berichtserstattung
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Als eine Frau ihre zweijährige Tochter ertränkt hat, herrschte vielerorts große Betroffenheit. So auch in Twistringen (Landkreis Diepholz - Niedersachsen), wo das Tötung des Kindes erfolgt ist. Wenn es dann noch die eigene Mutter ist, ist es mehr als Betroffenheit, die bei den Bürgerinnen und Bürgern entstehen.
In Twistringen war es die 38 jährige Mutter die ihre zweijährige Tochter ertränkt haben soll, abschließend aber sofort den Notruf gewählt habe, so die Berichtserstattung. Genau diese Berichtserstattung sorgt nun für Wirbel, denn der Vorwurf: "AbleistischeAbleismus oder Ableism bezieht sich auf eine diskriminierende Praxis gegenüber Menschen, denen körperliche und/oder geistige “Behinderungen” und/oder Einschränkungen zugeschrieben werden. Es ist eine Form der Diskriminierung, bei der Menschen mit Behinderungen von anderen ohne Behinderungen auf ihre körperliche oder psychische Behinderung reduziert werden. Der Begriff Ableismus stammt vom englischen Wort “ableism” ab, dass sich aus “to be able” und dem Suffix “-ism” zusammensetzt Berichterstattung über Kindstötung."
Der Vorwurf kommt von der Grünen Abgeordneten Corinna Rüffer und begründet sich in Aussagen, die in der Berichtserstattung des NDR zu hören waren. Im Regionalprogram des NDR, konkret in der Sendung „Hallo Niedersachsen“, die jeden Abend von 19:30 bis 20:00 Uhr läuft, ging es in der Sendung vom 19. Mai um Formulierungen, die sich aus dem angeblichen Tatmotiv der Mutter ergeben haben. Die Mutter soll ihre Tochter ertränkt haben „um ihr ein Leben mit schwerster Behinderung zu ersparen."
In dem Beitrag kommt ein Lokal-Journalist zu Wort und spricht mehrfach von einer großen not, in der sich die Mutter befunden habe, verweist dabei auf das angebliche Tatmotiv und anschließend auf Anlaufstellen, wo man sich in solchen Fällen Hilfe suchen kann. „Anschließend stellt der Journalist abschließend fest, dass „falls da jemand so eine Not hat und sich nicht traut, Hilfe zu suchen, dann kann so etwas offensichtlich passieren.“ In einem Artikel auf der NDR-Webseite zur Tat heißt es, neben den bereits bekannten Informationen: „Wie schwer die Behinderung des Kindes war, will die Polizei nun ermitteln," stellte Corinna Rüffer in einen offenen Brief dar, den Sie an den NDR in Hamburg verfasst hat.
Rüffer kritisiert in ihrem offenen Brief: „Eine solche Berichterstattung erzeugt ein äußerst problematisches Bild über das Leben von Menschen mit Behinderung: Die strukturell-diskriminierende Dimension des Tatmotivs, die ableistische Abwertung der Leben von Menschen mit Behinderung, wird nicht als solche benannt. Im Gegenteil wird durch den verständnisvollen Fokus auf die Mutter und ihren vermeintlichen seelischen Zustand („Da hat jemand aus einer wirklich großen inneren Not gehandelt“) allein die Täterinnenseite nachvollzogen – oder sogar mit Mitgefühl geworben – und damit eine Lesart des Tatmotivs nahegelegt, welche die Abwertung von Menschen mit Behinderung reproduziert. Dies gipfelt in der völlig unkritischen Übernahme der Aussage der Polizei, ermitteln zu wollen, wie schwer die Behinderung des Kindes gewesen sei – als ob ein bestimmter Schweregrad der Behinderung eine solche Tat rechtfertigen oder mildern könne.“
Corinna Rüffer weist den NDR dabei auf die Programmgrundsätzen aus § 41 Absatz 1Für die Rundfunkprogramme gilt die verfassungsmäßige Ordnung. Die Rundfunkprogramme haben die Würde des Menschen sowie die sittlichen, religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen anderer zu achten. Sie sollen die Zusammengehörigkeit im vereinten Deutschland sowie die internationale Verständigung fördern und auf ein diskriminierungsfreies Miteinander hinwirken. Die Vorschriften der allgemeinen Gesetze und die gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz der persönlichen Ehre sind einzuhalten des Rundfunkstaatsvertrags hin, der unter anderem die Rundfunkprogramme verpflichten „die Würde des Menschen sowie die sittlichen, religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen anderer zu achten“ und „auf ein diskriminierungsfreies Miteinander hinwirken“.
„Indem stattdessen unter Schlagworten wie „Tragödie“ die Tat auf die persönliche Situation der Beteiligten verengt wird, bleibt der strukturelle Hintergrund der Tat unsichtbar. Dabei sollte dieser gerade in Deutschland vor dem Hintergrund der Euthanasiegeschichte und der Abwertung des Lebens von Menschen mit Behinderung immer als mahnendes Beispiel in Erinnerung gehalten werden," so Rüffer weiter in ihrem offenen Brief.
Sie kritisiert auch den Raum für Spekulationen, die der Bericht über „die vermeintliche Notlage der mutmaßlichen Täterin“, die dort eingeräumt wird. Rüffer kritisiert weiter, dass „die Grausamkeit der Tat (Tötung durch Ertränken) nicht mit einem Wort zur Sprache“ kommt und „dies ist in ihren Berichterstattungen über Kindstötungen, bei denen die getöteten Kinder keine Behinderungen hatten," eben nicht der Fall sei.
Auf Anfrage unserer Redaktion nahm der NDR wie folgt Stellung: „In dem genannten Beitrag wurde das Tatmotiv zitiert, das die Mutter gegenüber der Polizei geäußert hatte. Keinesfalls bestand die Absicht, die Tat zu rechtfertigen oder Verständnis auszudrücken. Die Redaktion bedauert, dass dieser Eindruck entstanden ist. In Zukunft soll noch stärker darauf geachtet werden, dass das Zitieren von angeblichen Tatmotiven nicht als ein Verständnis für die Tat verstanden werden kann. Darüber ist die Redaktion mit dem Bereich Gleichstellung und Diversity im Gespräch."
Autor: kro / © EU-Schwerbehinderung