MehrBarrierefreiheitWagen - Die Tour endete mit vielen weiteren und kritischen Gesprächen
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Die Tour des MehrBarrierefreiheitWagen, die durch Deutschland verlief, ging gestern zu Ende. Frau Dr. Sigrid Arnade von der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben e.V. (ISL e.V.), hat sich auf der Tour mit betroffenen und Politikern unterhalten, um das Thema der oft mangelhaften Barrierefreiheit, näher zu diskutieren. Viele der Gespräche verdeutlichten zwar die Problematiken, aber ob diese ausreichen, dass in Deutschland die Barrierefreiheit genauso selbstverständlich wird wie in vielen anderen EU-Staaten, bleibt abzuwarten und ist sicherlich auch davon abhängig, aus welchen Parteien sich die nächste Bundesregierung bilden wird. Denn eines wird immer wieder deutlich. Während einige politische Statements verdeutlichen, dass dringend mehr getan werden muss, lassen andere Statements eher das Gegenteil vermuten.
"Netzwerk Artikel 3" berichtet über den letzten Tag der Tour vom Mehr Barrierefreiheit Wagen:
Ottmar Miles-Paul: Es ist frustrierend, wir kämpfen aber bis zur letzten Minute für ein gutes Barrierefreiheitsrecht
Bisher agierte Ottmar Miles-Paul sozusagen hinter den Kulissen zu Hause am Computer, in dem er die Berichte vom Mehr Barrierefreiheit Wagen ins Internet einstellte. Heute, beim Besuch des Mehr Barrierefreiheit Wagen in Kassel, wagte sich der langjährige Kämpfer für die Menschenrechte behinderter Menschen auch auf den Stuhl und zum Gespräch mit Dr. Sigrid Arnade über den vorliegenden Gesetzentwurf für ein Barrierefreiheitsstärkungsgestz. Dabei ließ er auch etwas von seinem Frust mit dem bisherigen für ihn viel zu lange dauernden Kampf für echte und umfassende Barrierefreiheit ab.
Zur von Dr. Sigrid Arnade gestellten Frage des Tages "Wann und wie erreichen wir den Barrierefreiheitsstandard, den die USA bereits 1990 gesetzlich festgeschrieben haben?" antwortete Ottmar Miles-Paul, der selbst 15 Monate in den USA gelebt hat: "Zwischen dem 1. Januar 2022, wenn wir engagierte Bundestagsabgeordnete haben, die ein gutes und umfassendes Barrierefreiheitsstärkungsgesetz verabschieden und vielleicht 2059, wenn sich die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention zum 50. Mal jährt. Wir erreichen das nur, wenn wir frecher und lauter werden und viele Abgeordnete mit Behinderung im Bundestag vertreten sind, die sich auch für die Belange behinderter Menschen stark machen."
Uwe Frevert: Wir brauchen mutige Politiker*innen, die sich dafür einsetzen, dass wirklich alle teilhaben können.
Auf Einladung von Uwe Frevert von der ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB) des Verein Selbstbestimmt Leben in Nordhessen (SliN) machte der Mehr Barrierefreiheit Wagen am 9. Mai Station in Kassel. Vor dem Zentrum für selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen sprach Dr. Sigrid Arnade mit Uwe Frevert von der EUTB, der gleichzeitig seit vielen Jahren auch im Vorstand der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) mitwirkt.
In Sachen Barrierefreiheitheitsstärkungsgesetz sagte dabei Uwe Frevert: "Wir brauchen ein Barrierefreiheitskonzept für die gesamte Gesellschaft. Auch der ganze private Bereich muss geregelt werden. Bisher ist alles nur Flickwerk und das ist teuer, wenn Beispiel mein Assistent für mich Geld abheben muss, weil der Automat nur über Stufen zu erreichen ist."
Aus seiner Zeit in den 1980er Jahren in den USA weiß Uwe Frevert, wie Barrierefreiheit geregelt werden kann. Zur von Dr. Sigrid Arnade gestellten Frage des Tages "Wann und wie erreichen wir den Barrierefreiheitsstandard, den die USA bereits 1990 gesetzlich festgeschrieben haben?" konnte er daher kompetent, aber auch etwas resigniert anworten: "Ich werde das wohl nicht mehr erleben. Um das zu erreichen, brauchen wir einen Politikwandel, bei dem nicht mehr die Wirtschaftsinteressen im Vordergrund stehen. Wir brauchen mutige Politiker*innen, die sich dafür einsetzen, dass wirklich alle teilhaben können."
Matthias Nölke: Wir werden uns u.a. für die Verkürzung der Übergangsfristen einsetzen
Matthias Nölke ist seit April 2020 Abgeordneter des Deutschen Bundestages und dort u.a. für die FDP Mitglied im Ausschuss für Arbeit und Soziales. Heute, am 9. Mai, war er zu Gast am Mehr Barrierefreiheit Wagen, der quasi in seiner Nachbarschaft am Zentrum für selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen in Kassel Station machte. Dr. Sigrid Arnade sprach mit ihm bei warmem Sommerwetter über das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz, zu dem der Ausschuss am 17. Mai eine Anhörung durchführt.
"Wir wissen, dass das Gesetz unzureichend ist. Deshalb werden wir uns unter anderem für eine Verkürzung der Übergangsfristen sowie die Einbeziehung der baulichen Umwelt einsetzen. Wir werden auch dafür eintreten, dass die Pflicht zur Barrierefreiheit nicht nur für den Kundenbereich, sondern auch für den Geschäftsbereich besteht", erklärte Matthias Nölke.
Zur von Dr. Sigrid Arnade gestellten Frage des Tages "Wann und wie erreichen wir den Barrierefreiheitsstandard, den die USA bereits 1990 gesetzlich festgeschrieben haben?" antwortete Matthias Nölke: "Am liebsten morgen, und ich werde mich nach Kräften für ein gutes Gesetz einsetzen."
Timon Gremmels: Konjunkturprogramme mit der Pflicht zur Barrierefreiheit verbinden
Der Kasseler Bundestagsabgeordnete Timon Gremmels von der SPD ist Mitglied im Ausschuss für Wirtschaft und Energie sowie im Petitionsausschuss des Bundestages. Trotz Online-SPD-Parteitags schaffte er es am 9. Mai, einige Minuten zum Gespräch mit Dr. Sigrid Arnade zum Mehr Barrierefreiheit Wagen ans Kasseler Zentrum für selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen zu kommen und sich mit ihr über das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz auszutauschen.
Er erklärte: "Nach der UN-Behindertenrechtskonvention müssten wir viel weiter sein. Wir werden in einem Entschließungsantrag die Bundesländer auffordern, über die Landesbauordnungen die Barrierefreiheit der baulichen Umwelt zu gewährleisten. Mich stören auch die vielen Ausnahmeregelungen im Gesetz. Außerdem sollten wir uns die langen Übergangsfristen nochmal anschauen."
Zur von Dr. Sigrid Arnade gestellten Frage des Tages "Wann und wie erreichen wir den Barrierefreiheitsstandard, den die USA bereits 1990 gesetzlich festgeschrieben haben?" antwortete Timon Gremmels: "Das sollten wir spätestens mit dem Kohleausstieg erreichen, wobei beides zu beschleunigen ist. Nach Corona werden wir viele Konjunkturprogramme auflegen müssen. Diese sollten mit der Pflicht zur Barrierefreiheit verbunden werden."
Marleen Soetandi: Mit einem guten Barrierefreiheitsrecht Ängste vor einer Beeinträchtigung reduzieren
Der letzte Stopp auf der Tour mit dem Mehr Barrierefreiheit Wagen war ein ganz besonderer. Dr. Sigrid Arnade und Hans-Günter Heiden vom NETZWERK ARTIKEL 3 besuchten am 9. Mai Marleen Soetandi, die in der Nähe von Kassel wohnt. Dabei bedankten sie sich bei ihr für die Logos, die sie für die Aktion "Noch 100 Tage für ein gutes Barrierefreiheitsrecht" geschaffen hat. Marleen Soetandi verfügt über ein außerordentliches gestalterisches Talent und über einen guten Blick auf die Details. So waren die Tourenden mit dem Mehr Barrierefreiheit Wagen natürlich auch sehr an ihrer Meinung in Sachen Barrierefreiheitsrecht interessiert.
"Ein gutes Barrierefreiheitsrecht würde zu mehr Chancengleichheit und Gerechtigkeit führen. Nachteile würden ausgeglichen, Spontanität wäre möglich. Auch die Ängste vor einer Beeinträchtigung könnten reduziert werden, wenn Teilhabe weiter problemlos möglich wäre", betonte Marleen Soetandi.
Zur von Dr. Sigrid Arnade gestellten Frage des Tages "Wann und wie erreichen wir den Barrierefreiheitsstandard, den die USA bereits 1990 gesetzlich festgeschrieben haben?" antwortete Marleen Soetandi: "Ich hoffe, dass das in den nächsten drei Jahren gelingt. Hilfreich dazu wäre, wenn die Leute, die Gesetze machen, etwas von dem Thema verstehen, das sie regeln. Wer beispielweise über Pflegethemen entscheidet, sollte selbst in der Pflege gearbeitet haben."
Autor: kk / © EU-Schwerbehinderung