Armutsbericht: Armut auf neuen Höchststand
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Laut Paritätischem Armutsbericht 2022 hat die Armut in Deutschland mit einer Armutsquote von 16,6 Prozent im zweiten Pandemie-Jahr (2021) einen traurigen neuen Höchststand erreicht.
"Die Befunde sind erschütternd, die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie schlagen inzwischen voll durch. Noch nie wurde auf der Basis des amtlichen Mikrozensus ein höherer Wert gemessen und noch nie hat sich die Armut in jüngerer Zeit so rasant ausgebreitet wie während der Pandemie", so Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands.
Während 2020 noch die verschiedenen Schutzschilde und Sofortmaßnahmen der Bundesregierung und der Länder dafür sorgten, dass die Armut trotz des wirtschaftlichen Einbruchs und des rapiden Anstiegs der Arbeitslosigkeit nur relativ moderat anstieg, seien die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie 2021 offenbar voll auf die Armutsentwicklung durchgeschlagen, so die Ergebnisse der Studie.
Auffallend sei ein ungewöhnlicher Zuwachs der Armut unter Erwerbstätigen, insbesondere Selbständiger (von 9 auf 13,1 Prozent), die während der Pandemie in großer Zahl finanzielle Einbußen zu erleiden hatten. Armutshöchststände verzeichnen auch Rentner*innen (17,9 Prozent) sowie Kinder und Jugendliche (20,8 Prozent).
Bezüglich der regionalen Armutsentwicklung zeigt sich Deutschland nach dem aktuellen Armutsbericht tief gespalten: Während sich Schleswig-Holstein, Brandenburg, Baden-Württemberg und vor allem Bayern positiv absetzen, weisen fünf Bundesländer überdurchschnittlich hohe Armutsquoten auf: Nordrhein-Westfalen, Thüringen, Sachsen-Anhalt, Berlin und das Schlusslicht Bremen, weit abgeschlagen mit einer Armutsquote von 28 Prozent. Armutspolitische Problemregion Nr. 1 bleibt dabei das Ruhrgebiet, mit 5,8 Millionen Einwohner*innen der größte Ballungsraum Deutschlands. Mehr als jede*r Fünfte dort lebt in Armut. In einem Länderranking würde das Ruhrgebiet mit einer Armutsquote von 21,1 Prozent gerade noch vor Bremen auf dem vorletzten Platz liegen.
Der Paritätische Wohlfahrtsverband kritisiert insbesondere das jüngste Entlastungspaket als ungerecht und unzureichend. Die seit Herbst 2021 steigenden Lebenshaltungskosten führten zu einer dramatischen Vertiefung der Armut und verlangten entschlossene Hilfsmaßnahmen. "Pandemie und Inflation treffen eben nicht alle gleich. Wir haben keinerlei Verständnis dafür, wenn die Bundesregierung wie mit der Gießkanne übers Land zieht, Unterstützung dort leistet, wo sie überhaupt nicht gebraucht wird und Hilfe dort nur völlig unzulänglich gestaltet, wo sie dringend erforderlich wäre", so Schneider. Nur zwei Milliarden Euro des insgesamt 29 Milliarden-Euro-schweren Entlastungspaket seien als gezielte Hilfen ausschließlich einkommensarmen Menschen zugekommen, kritisiert der Verband. Dazu würden die Einmalzahlungen durch die Inflation "aufgefressen", noch bevor sie überhaupt ausgezahlt sind.
Der Paritätische fordert umgehend ein neues Maßnahmenpaket, das bei den fürsorgerischen Leistungen ansetzen müsse, konkret den Regelsätzen in der Grundsicherung, bei Wohngeld und BAföG. "Wir brauchen dringend ein weiteres Entlastungspaket, eines das zielgerichtet ist, wirksam und nachhaltig", fordert Ulrich Schneider. "Grundsicherung, Wohngeld und BAföG sind nach unserer Auffassung die wirksamsten Hebel um schnell zu einer Entlastung unterer Einkommen zu gelangen, die nachhaltig wirkt und nicht nach kurzer Zeit wieder verpufft. Es geht darum unsere letzten Netze sozialer Sicherung wieder höher zu hängen."
Zur Inflationsrate im Juni und dem Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes erklärt Andreas Audretsch, Stellvertretender Fraktionsvorsitzende von den Grünen:
„Der Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes zeigt, dass trotz sinnvoller Maßnahmen wie Kurzarbeit auch die Corona-Krise nicht spurlos an unserer Gesellschaft vorbeigegangen ist, sondern Ungleichheiten verstärkt hat. Hinzu kommt nun Putins fossile Inflation, die besonders Menschen mit wenig Geld hart trifft. Die vorläufigen Zahlen von 7,6% Inflation für Juni 2022 zeigen, dass die Preissteigerungen auch mittelfristig ein Problem bleiben.
Für Menschen mit kleinen Einkommen wird es weitere gezielte Entlastungen brauchen. Deshalb ist es gut, dass sich die Ampel-Regierung auf den Weg gemacht hat, im Rahmen der Konzertierten Aktion gemeinsam mit Gewerkschaften und Arbeitgebern Antworten zu finden. Klar ist, dass nicht alle Belastungen für alle Menschen aufgefangen werden können. Wir müssen daher insbesondere die Menschen unterstützen, die kaum finanzielle Spielräume mehr haben. Klar ist: Wir brauchen weitere Entlastungen für Menschen in den Grundsicherungen und für Menschen mit kleinen Einkommen.
Daneben sind auch langfristige Maßnahmen zur Reduktion der Armut in Deutschland erforderlich. Ab Oktober gilt der Mindestlohn von 12 Euro, die Ampel wird zum nächsten Jahr Hartz IV überwinden und das Bürgergeld einführen, das auch deutlich höhere und inflationsfeste Regelsätze umfassen muss. Mit der Kindergrundsicherung holen wir viele Kinder aus der Armut. Alle vereinbarten Maßnahmen brauchen eine verlässliche Finanzierung, damit unsere Gesellschaft weiter zusammenhält.
Die Preissteigerungen selber müssen wir mit massiven Investitionen angehen – in erneuerbare Energien und Energieeffizienz. Denn es sind die fossilen Energieträger, die derzeit die Preise treiben. Mit Erneuerbaren können wir die hohen Preise in den Griff kriegen, machen uns unabhängig von Diktatoren und bekämpfen zugleich die Klimakrise.“
Autor: dm / © EU-Schwerbehinderung
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