PISA-Studie: Rückschlag für deutsche Schüler - Besorgniserregender Leistungsabfall
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„Der Leistungsrückgang deutscher Schüler und Schülerinnen bei PISA gibt Anlass zu größter Sorge. Gute Bildung ist die wichtigste Basis für unseren Wohlstand“, sagt Ludger Wößmann, Leiter des ifo Zentrums für Bildungsökonomik. „In Mathematik und Lesen liegen die Leistungen der 15-Jährigen ein ganzes Schuljahr hinter dem zurück, wo sie noch vor vier Jahren standen. Einen derartigen Rückgang der Bildungsergebnisse hat es noch nie gegeben. Mittlerweile sind die Leistungen sogar unter das Niveau gefallen, das vor gut 20 Jahren den ersten PISA-Schock ausgelöst hat. Der Rückgang von 25 PISA-Punkten, wie wir ihn gerade in Mathematik gesehen haben, kostet Deutschland langfristig rund 14 Billionen Euro an Wirtschaftsleistung bis zum Ende des Jahrhunderts.“
Die heute veröffentlichten Ergebnisse von PISA 2022, einer internationalen Testung von 15-Jährigen auf ihre mathematischen und naturwissenschaftlichen Fähigkeiten sowie ihre Lesekompetenz und einer Befragung zu ihrer Situation, zeigt: Die Durchschnittsergebnisse in Mathematik, Lesekompetenz und Naturwissenschaften sind deutlich schwächer als 2018 und entsprechen dem Lernfortschritt eines halben bzw. ganzen Schuljahres. Dazu kommentiert der Bundesvorsitzende des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE), Gerhard Brand: „Das sind natürlich keine wünschenswerten Ergebnisse, aber die üblichen Reflexe werden uns nicht helfen. Dem Ruf nach Fokussierung auf die Basiskompetenzen erteile ich schon im Voraus eine scharfe Absage. Werden Kinder nicht ganzheitlich gebildet, lernen sie nicht so gut. Sprachen, Kunst und Musik müssen genauso einen festen Platz im Lehrplan haben wie Deutsch und Mathematik. Wir müssen bilden und erziehen mit Kopf, Herz und Hand.“
Das Deutsche Kinderhilfswerk appelliert an Bund, Länder, Kommunen und Schulen, die Bildungsgerechtigkeit in Deutschland stärker in den Fokus der Aufmerksamkeit zu nehmen. Aus Sicht der Kinderrechtsorganisation zeigen die heute veröffentlichten PISA-Ergebnisse zum wiederholten Male die fehlende Chancengerechtigkeit im deutschen Schulsystem auf. So vermisst das Deutsche Kinderhilfswerk an vielen Stellen den politischen Willen, sich dem drängenden, strukturellen Problem der schlechten Bildungschancen der von Armut betroffenen Kinder in Deutschland anzunehmen. Ebenso hängt die signifikante Differenz der Leistungen zwischen Schülerinnen und Schülern mit und ohne Migrationshintergrund Deutschland schon seit vielen Jahren nach, auch hier braucht es dringend Lösungsansätze.
„Natürlich ist es erschreckend, dass es sich bei den Ergebnissen von 2022 in allen drei Kompetenzbereichen um die niedrigsten Werte handelt, die jemals im Rahmen von PISA gemessen wurden. Dazu haben sicherlich auch die monatelangen Schulschließungen im Zuge der Corona-Pandemie beigetragen. Gleichzeitig ist es ein Lichtblick, dass die Leistungen der Schülerinnen und Schüler in Deutschland in den Bereichen Mathematik und Lesekompetenz nahe am OECD-Durchschnitt und in Naturwissenschaften über dem OECD-Durchschnitt lagen. Alarmierend sind jedoch die großen Leistungsunterschiede zwischen sozioökonomisch begünstigten und benachteiligten Schülerinnen und Schülern sowie der deutliche Leistungsvorsprung von Schülerinnen und Schülern ohne Migrationshintergrund“, betont Holger Hofmann, Bundesgeschäftsführer des Deutschen Kinderhilfswerkes.
„Das Schulsystem in Deutschland muss alle Kinder und Jugendlichen entsprechend ihrer Fähigkeiten optimal fördern. Dazu ist ein nach oben durchlässiges Schulsystem notwendig, das ein längeres gemeinsames Lernen und individuelle Förderung von benachteiligten Schülerinnen und Schülern ermöglicht. Es braucht zudem eine gemeinsame Kraftanstrengung von Bund und Ländern, um wirksame Konzepte gegen die zu große Abhängigkeit des Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft auf den Weg zu bringen und dem immer noch viel zu hohen Anteil von Schülerinnen und Schülern, die ohne jeglichen Abschluss die Schule verlassen, entgegenzuwirken Dafür müssen sowohl finanzielle Ressourcen mobilisiert, der Lehrkräftemangel effektiv angegangen als auch Schule und Schulunterricht selbst verändert werden. Dazu zählt beispielsweise die Vermittlung von Kinderrechten, die in Schulen zu einem Leitgedanken gemacht werden sollten, und die ins Leitbild jeder Schule gehören“, so Hofmann weiter.
„Um Benachteiligungen durch Bildung abzubauen, bedarf es aus Sicht des Deutschen Kinderhilfswerkes eines Bildungssystems, dass jedes Kind in seiner Individualität wahrnimmt und ihm die Förderung zuteilwerden lässt, die es benötigt. Die UN-Kinderrechtskonvention sichert allen Kindern in den Artikeln 28 und 29 zu, dass das Recht auf Bildung chancengleich für alle realisiert werden soll. Die Beteiligung von Schülerinnen und Schülern ist hier eine wesentliche Komponente, die leider in zu vielen Schulen nicht in den Blick genommen wird. Denn eine gelingende Beteiligung von Kindern und Jugendlichen sowie die daraus resultierende Selbstwirksamkeitserfahrung trägt zu einem reflektierenden Umgang und der Entwicklung von Bewältigungsstrategien in herausfordernden Situationen bei, was beispielsweise auch im Armutskontext hilfreich sein kann. Das Ganztagsschulprogramm muss als Chance begriffen werden, Schule gemeinsam mit Kindern positiv zu entwickeln und zu gestalten“, sagt Holger Hofmann.
Zur Veröffentlichung der PISA-Untersuchung 2022 erklären Katharina Dröge, Fraktionsvorsitzende (Grüne), und Nina Stahr, Sprecherin für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (Grüne):
Die Ergebnisse der PISA-Untersuchung 2022 sind ein erneutes Warnsignal für unser Bildungssystem. Nicht nur für die persönliche Entwicklung der Kinder und Jugendlichen sind die Daten alarmierend. Auch für den Wirtschaftsstandort Deutschland sind sie von hoher Bedeutung, denn die Schüler*innen von heute sind die Fachkräfte von morgen.
Ob IQB, IGLU oder PISA: Statt konjunktureller Debatten über Bildung brauchen wir eine gemeinsame bildungspolitische Strategie von Bund, Ländern und Kommunen mit gesamtstaatlichen Bildungszielen. Diese muss unter enger Einbeziehung von Zivilgesellschaft und Wissenschaft erarbeitet werden. Es ist wichtig, dass die Bildungsministerin diesen Prozess steuert und die Beteiligten an einen Tisch bringt.
Damit einhergehend müssen wir eine ergebnisoffene Debatte über die Zukunft des Bildungsföderalismus führen. Ausgehend von einer ehrlichen Bestandsanalyse müssen wir Antworten entwickeln, wie alle föderalen Ebenen in Zukunft zielführend zusammenarbeiten können.
Dass die Kooperation von Bund und Ländern auch gelingen kann, zeigt das Startchancen-Programm. Unser Ziel ist, die Zahl der Schüler*innen an den geförderten Schulen in besonders benachteiligten Quartieren, die die Mindeststandards in Mathematik und Deutsch verfehlen, zu halbieren. Das ist das größte je dagewesene Bund-Länder-Projekt für mehr Bildungsgerechtigkeit, dass wir als Ampel nun an den Start bringen.
Zur individualisierten Lerndiagnostik und gezielten Förderung von Schüler*innen kann auch der datenschutzkonforme Einsatz von KI-Anwendungen beitragen. Diese Potenziale müssen durch die Bildungsforschung und eine angepasste Lehrkräfteaus- und -weiterbildung besser erschlossen und durch Leitlinien für den Einsatz begleitet werden.
Für uns ist klar: Die PISA-Ergebnisse zeigen, dass Investitionen in Bildung wichtig sind. Entscheidende bildungspolitische Projekte, wie der Digitalpakt 2.0, müssen zusammen mit den Ländern auf den Weg gebracht werden. Gezielt in Bildung zu investieren zahlt sich am Ende aus.
Zu den Ergebnissen der PISA-Studie 2022 erklärt die bildungspolitische Sprecherin der FDP-Fraktion Ria Schröder:
„Die Ergebnisse der neuen PISA-Studie stellen der Bildung in Deutschland ein miserables Zeugnis aus. Von einem Schock kann aber keine Rede sein, denn PISA steht am Ende einer Reihe von Negativ-Schlagzeilen. Der Abwärtstrend hat sich bereits vor der Pandemie abgezeichnet. Es ist ein Debakel mit Ansage. Die Länder müssen endlich systematisch gegensteuern. Insbesondere Schülerinnen und Schüler, die von ihrem Elternhaus wenig bis gar keine Unterstützung bekommen, brauchen mehr individuelle Förderung beim Erlernen der Basiskompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen. Diesen Nachholbedarf offenbart die Studie und genau da setzt das Startchancen-Programm an. Die Kultusministerkonferenz muss diese Woche endlich den Widerstand in ihren Reihen gegen das Startchancen-Programm aufgeben und das wegweisende Bund-Länder-Programm beschließen. Die Herausforderungen sind zu groß und schulische Bildung ist zu wichtig, als dass es weitergehen kann wie bisher. “
„Schlimmer geht wohl doch immer. Es dürfte leider keinen überraschen - dank Untätigkeit und falscher Prioritätensetzung: Auf PISA-Schock folgt PISA-Schock“, erklärt Nicole Gohlke, stellvertretende Vorsitzende und Sprecherin für Bildung und Wissenschaft der Fraktion DIE LINKE, mit Blick auf die aktuellen Ergebnisse der Pisa-Studie zum internationalen Vergleich von Lernleistungen, bei der deutsche Schülerinnen und Schüler so schlecht abgeschnitten haben wie nie zuvor. Nicole Gohlke weiter:
„Wir sollten weniger Zeit mit Warten verplempern. Es mangelt an politischem Willen und Fähigkeit, endlich strukturell etwas zu ändern. Schüler- und Lehrergenerationen wollen nicht damit warten bis PISA 20.0. Es mangelt an gut ausgebildetem Personal, an guten Kitas und Schulen – innen wie außen. Die soziale Schere klafft weiter auseinander. Wir haben eine soziale Schieflage bei der Verteilung der Mittel.
Da hilft nur eins: Weg mit den ideologisch verbohrten Brettern vor den Köpfen derer, die an alten Systemfehlern kleben. Weg mit dem Kooperationsverbot: Bund, Länder und Kommunen müssen in die gemeinsame Verantwortung. Bildung muss auf allen Ebenen Chefsache werden. Dem massiven Bildungsfiasko muss endlich umfangreich und wirksam entgegentreten werden: Umdenken, sozial gerecht und massiv investieren, Lehren und Lernen in Schule spürbar verbessern, Lehrerbildung reformieren. Wir brauchen eine Ausbildungsoffensive für mehr Lehrkräfte und Erzieher und ein 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen – und zwar sofort.“
Gründe (1): Lehrkräftemangel
Die Gründe für das schlechte Abschneiden sieht Brand im Lehrkräftemangel und den Folgen der Einschränkungen während der Coronapandemie insbesondere aufgrund der defizitären Digitalisierung der Schulen. Das bestätigt auch die Befragung der Jugendlichen. So sehen drei Viertel von ihnen den Schulunterricht durch den Lehrkräftemangel beeinträchtigt. „Jetzt zeigt sich, was Mangel heißt. Vertretungsstunden und Schulausfall haben Konsequenzen! Die Politik sollte das als Warnruf annehmen, ihre Bemühungen bei der Bekämpfung des Lehrkräftemangels noch deutlich auszuweiten. Wir brauchen keinen zweiten Pisa-Schock, sondern endlich einen Pisa-Ruck!“
Gründe (2): Digitalisierung
Defizitäre Digitalisierung und lange Schulschließzeiten haben sich für die Alterskohorte besonders ungünstig ausgewirkt, so Brand. Er führt aus: „Jahrelang haben wir angemahnt, dass die Digitalisierung Einzug halten muss in Deutschlands Schulen. Jahrelang wurden wir vertröstet, haben uns auf Sponsoring verlassen müssen oder durch private Spenden nur einzelne Geräte in die Klassenzimmer bekommen. Da ist es nicht verwunderlich, dass sich in dem Moment, als es auf digitale Kompetenzen ankam, extreme Defizite offenbarten.“
Gründe (3): Auswirkungen der Coronapandemie
Er verweist darauf, dass jene Jugendliche, die 2022 während der PISA-Testung 15 Jahre alt waren, besonders stark von Schulschließungen betroffen waren. Sie waren während der Coronapandemie in der 7., 8., oder 9. Klasse. Das waren vielerorts jene Klassenstufen, die als letztes wieder in die Schule gehen durften, um für die anderen die Abstandsregelungen einhalten zu können. So sagen 71 Prozent der befragten Jugendlichen, dass länger als drei Monate kein regulärer Unterricht stattfand. Brands Fazit: „Ohne die entsprechende Ausstattung, ohne die notwendige Übung und mit dafür nicht ausreichend fort- und weitergebildeten Lehrkräften konnten die Jugendlichen die Basis nicht ausreichend gut legen, welche sie für ein gutes Bestehen der PISA-Testung gebraucht hätten.“
Wertschätzung für Lehrkräfte
Gleichwohl verweist der VBE Bundesvorsitzende auf die Leistungen der Lehrkräfte: „Gerade in Pandemiezeiten, aber auch danach, hat nur das hohe Engagement der Lehrkräfte dazu geführt, dass die Ergebnisse nicht noch viel verheerender sind. Sie arbeiten unter widrigen Umständen. Und: Die Ansprüche an Schule sind hoch und werden immer höher. Gleichzeitig wird die Zusammensetzung im Klassenraum immer herausfordernder. Kinder mit Förderbedarfen, mit Sprachschwierigkeiten, aber auch jene mit besonderen Talenten müssen alle individuell gefördert werden. Das schafft eine Lehrkraft allein nicht. Daher braucht es multiprofessionelle Teams an den Schulen, damit alle Professionen zusammenwirken können.“
Soziale Ungleichheit
Ein Hauptproblem, für das Deutschland in internationalen Vergleichen stets angemahnt wird, ist die soziale Ungleichheit. Auch Pisa 2022 zeigt, dass weiter dringender Handlungsbedarf besteht: „Die Ergebnisse führen die Politik vor. Der Abstand zwischen Vermögenden und Armen bleibt gleich groß. Die Bemühungen, den Bildungserfolg von der sozioökonomischen Ausstattung des Elternhauses der Schülerinnen und Schüler abzukoppeln, sind nicht ausreichend. Nun muss der PISA-Ruck durch Deutschland gehen.“