Hohe Inflation kostet viele Haushalte 2023 zwei bis drei Prozent Kaufkraft
- 01 Jun
Trotz umfangreicher staatlicher Entlastung haben die meisten Haushalte in Deutschland durch die hohe Inflation im vergangenen und in diesem Jahr deutliche Einbußen bei der Kaufkraft erlitten. In vielen Arbeitnehmenden-Haushalten fallen die Nettoeinkommen 2023 nach Abzug der Teuerung um gut zwei bis gut drei Prozent niedriger aus als 2021 – nachdem sie schon 2022 deutliche Kaufkraftverluste hinnehmen mussten. Das entspricht beispielsweise bei alleinlebenden Facharbeitenden in diesem Jahr einer „Kaufkraftlücke“ von 746 Euro gegenüber 2021. Eine vierköpfige Mittelschichts-Familie mit zwei Erwerbstätigen büßt sogar 1747 Euro an Kaufkraft ein, Alleinerziehende mit einem Kind und mittlerem Einkommen 980 Euro. Lediglich Alleinlebende, die zum Mindestlohn arbeiten, haben gegen diesen Trend dank der kräftigen Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns ein spürbar höheres reales Nettoeinkommen zur Verfügung als 2021. Dabei wären die Verluste ohne die Entlastungsprogramme der Bundesregierung noch weitaus größer ausgefallen, ergibt eine neue Studie des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung.* Die Kombination aus Entlastungen bei Steuern und Sozialabgaben, höheren Sozialleistungen, Preisbremsen und Direktzahlungen sei angekommen, betonen Prof. Dr. Sebastian Dullien, Dr. Katja Rietzler und Dr. Silke Tober: „Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Staat in der aktuellen Phase überschießender Inflation die Privathaushalte in Deutschland sowohl preislich als auch nicht-preislich massiv entlastet und damit den Verlust an Kaufkraft spürbar begrenzt hat.“ Das gelte gerade im unteren Einkommenssegment, Haushalte mit hohen Einkommen weisen allerdings ebenfalls unterdurchschnittliche Kaufkraftverluste im Verhältnis zu ihren Einkünften auf.
Als wirkungsvoll stufen die Fachleute des IMK auch die steuer- und abgabenfreien Inflationsausgleichsprämien ein, die in vielen Lohnabschlüssen ergänzend zu tabellenwirksamen Erhöhungen eine Rolle spielen. Die Prämien seien „geeignet, den Kaufkraftverlust massiv zu verringern und in Einzelfällen ganz zum Verschwinden zu bringen“, analysieren die Forschenden auf Basis von beispielhaften Vergleichsrechnungen. Im gesamtwirtschaftlichen Mittel und wegen des Einmalcharakters der Prämie bleibe die Stabilisierung und Stärkung der Kaufkraft aber auch für die kommenden Jahre ein wichtiges Thema.
In ihrer Untersuchung berechnen Dullien, Rietzler und Tober für 13 verschiedene Erwerbstätigen-Haushaltstypen, wie sich Brutto- und Nettoeinkommen zwischen 2021 und 2023 entwickelt haben. Die Haushalte unterscheiden sich nach Personenzahl, Zahl der Erwerbstätigen sowie Einkommen und reichen von einer alleinlebenden Person mit Niedrigverdienst bis zur vierköpfigen Familie mit Doppelverdienst und sehr hohem Einkommen. Anhand von drei Modellrechnungen zeigen die Forschenden zudem beispielhaft, wie sich Inflationsausgleichsprämien in unterschiedlicher Höhe auswirken.
Datenbasis für die Studie ist die repräsentative Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS), die die Forschenden unter anderem mit Daten zum Steuertarif, zur haushaltsspezifischen Wirkung der verschiedenen Entlastungsprogramme und zur gesamtwirtschaftlichen Lohnentwicklung fortschreiben. Differenziertere Aussagen zu Beschäftigten aus unterschiedlichen Branchen sind auf dieser Datenbasis nicht möglich. Berücksichtigen konnten die Ökonom*innen dagegen, dass Haushalte mit niedrigeren Einkommen aktuell eine höhere Inflationsrate schultern müssen als Spitzenverdienende, weil die Preistreiber Haushaltsenergie und Nahrungsmittel in ihren Warenkörben ein besonders hohes Gewicht aufweisen.
Über mehrere Analyseschritte kommen Dullien, Rietzler und Tober u.a. zu folgenden Ergebnissen:
„Kalte Progression“ überkompensiert. Fast alle untersuchten Haushaltstypen haben 2023 bei ihren Einkommen mehr „netto vom Brutto“ übrig als vor dem Inflationsschub 2021. Die staatlichen Entlastungen bei Steuertarif und Sozialabgaben glichen die „kalte Progression“ also mehr als aus. Relativ zum Einkommen gesehen hat sich bei den meisten Haushalten die Netto-Brutto-Relation um einen halben bis einen Prozentpunkt verbessert. Überdurchschnittlich groß ist der relative Effekt bei Singles, die im Midijobbereich mit geringem Verdienst arbeiten, sowie bei Beschäftigten, die einen Teil ihrer Lohnerhöhungen in diesem Jahr als steuerfreie Inflationsausgleichsprämien erhalten. In absoluten Beträgen profitieren Alleinlebende mit Spitzeneinkommen am stärksten, gefolgt von Familien mit zwei Kindern und hohen Einkommen. Die einzige Ausnahme stellen Beschäftigte dar, die Vollzeit zum Mindestlohn arbeiten. Der Rückgang der Netto-zu-Brutto-Quote im Jahr 2023 im Vergleich zu 2021 ist bei ihnen aber nicht auf „kalte“ sondern auf ganz normale Steuerprogression zurückzuführen. Das liegt am hohen Lohnzuwachs von 14 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Trotz der Mehrbelastung bei Steuern und Abgaben steigt ihr Nettoeinkommen deutlich stärker als die Inflation.
Höherer Mindestlohn wirkt – mit Abstrichen. Die Mindestlohnerhöhung auf 12 Euro hat Niedriglohnbeschäftigte somit davor bewahrt, dass sie die Preisexplosion noch stärker trifft. Vollzeitbeschäftigte mit Mindestlohn haben in diesem Jahr netto und bereinigt um ihre überdurchschnittliche haushaltsspezifische Inflationsrate 1353 Euro oder 7,8 Prozent mehr Kaufkraft als 2021. Allerdings stecke in diesen Zahlen auch ein Wermutstropfen, so die Forschenden. Schließlich war es ein Ziel der Mindestlohnerhöhung, die verfügbaren Einkommen im Niedriglohnbereich deutlich zu erhöhen. Das sei zwar trotz des Inflationsschubs gelungen, allerdings „wohl nicht in der intendierten Größenordnung“.
Inflationsausgleichsprämie hat kurzfristig erheblichen Effekt. Die im Rahmen der „konzertierten Aktion“ entwickelte Möglichkeit zur steuer- und abgabenfreien Prämienzahlung durch die Arbeitgeber ist zwar auf insgesamt 3000 Euro bis Ende 2024 begrenzt. In der aktuellen Situation mit weiterhin sehr hoher Inflation kann sie aber einen erheblichen Beitrag zur Kaufkraftstabilisierung leisten. Das zeigt das IMK mit Beispielrechnungen, die kalkulieren, wie sich das Nettoeinkommen und die Kaufkraftlücke eines Haushaltstyps verändern, wenn der Arbeitgeber in diesem Jahr einen Teil des ansonsten gleichen Bruttoeinkommens in Form einer Inflationsausgleichsprämie zahlt – aus Sicht der Beschäftigten also ein Teil ihrer diesjährigen Lohnerhöhung in Form der Prämie kommt.
Bei einer Prämie von 750 Euro reduziert sich beispielsweise die Kaufkraftlücke alleinlebender Facharbeitender in diesem Jahr von 746 auf 405 Euro gegenüber 2021. Mit einer Prämie von 1500 Euro bleibt bei diesem Haushaltstyp für 2023 nur noch ein relativ kleiner Kaufkraftverlust von 67 Euro. Bei Alleinlebenden mit hohen Einkommen macht eine Inflationsprämie von 1500 Euro sogar aus einem Kaufkraftverlust von 677 Euro einen Zugewinn von 121 Euro. Grund für den Unterschied in der Wirkung: Bei der Person mit hohem Einkommen und höherem Steuersatz schlägt die Steuerfreiheit stärker zu Buche. Aus Sicht der Arbeitgeber bedeute die Prämie trotz der erheblichen Höhe eine vergleichsweise moderate Kostenbelastung, so das IMK. Das sei makroökonomisch wichtig, um Inflationsdruck zu begrenzen.
Im Durchschnitt 416 Euro Entlastung durch Energiepreisbremsen. Auch die verschiedenen preislichen Entlastungsmaßnahmen, die die Bundesregierung 2022 und 2023 beschlossen hat, haben Dullien, Rietzler und Tober bei der Berechnung der Kaufkraftlücken einbezogen. Sie wirken indirekt, indem sie die Preisentwicklung dämpfen. Das gelingt insbesondere mit der Gas- und der Strompreisbremse in relevantem Maße, rechnen die Forschenden vor: Beide Instrumente zusammen reduzieren die Inflationsrate 2023 im Mittel um einen Prozentpunkt. Zusammen mit der verringerten Mehrwertsteuer auf Erdgas und Fernwärme entlastet das die Haushalte im Durchschnitt um 416 Euro in diesem Jahr.