Pflegereport: Baby-Boomer-Effekte verschärfen die Personalnot in MV deutlich
- 10 Sep
Das Ausscheiden der Baby-Boomer-Generation verschärft die Situation der beruflichen Pflege in Mecklenburg-Vorpommern. Neben erheblichen Finanzierungslücken in der Pflegeversicherung bedroht die steigende Personalnot zunehmend die Versorgung pflegebedürftiger Menschen. Das sind Ergebnisse des aktuellen Landespflegereports der DAK-Gesundheit, für den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unter der Leitung von Professor Thomas Klie vom Institut AGP Sozialforschung die Auswirkungen der demografischen Entwicklung auf das Pflegesystem untersucht haben. Demnach wird die ohnehin dünne Arbeitsmarktreserve in MV von rund 688 Fachkräften (2,6 Prozent) in 2024 auf lediglich 192 Fachkräfte (0,7 Prozent) im Jahr 2030 abschmelzen. Folge: Folge: Ausscheidendes Pflegepersonal kann lediglich ersetzt werden. Ein Personal- und Strukturaufbau, um den demografischen Wandel abfedern zu können, ist laut Studie nicht möglich. Laut DAK-Landespflegereport müssen in den nächsten zehn Jahren in MV 21,5 Prozent vom Pflegepersonal ersetzt werden, das sind knapp weniger als im Bundesdurchschnitt (21,9 Prozent). Die Studie zeigt auch auf, dass die Baby-Boomer nicht nur ein Problem des Pflegesystems sind, sondern auch ein möglicher Teil der Lösung.
„Wir stehen in Mecklenburg-Vorpommern vor einer großen Herausforderung beim Personalbedarf an Pflegekräften. Trotz anderslautender Versprechen sehen wir keine Entlastung für die Pflegenden und keine Reserven für den demografischen Wandel“, sagt DAK-Landeschefin Sabine Hansen zu den Reportergebnissen. „Wir brauchen eine grundlegende Reform der Pflegeversicherung mit Strahlkraft in die Länder, um die Pflege mit neuen Versorgungskonzepten zukunftsfähig zu machen.“ Steigende Kosten, immer mehr Pflegebedürftige und beständig abnehmende Personalressourcen strapazierten das System. Verschärft wird die Personalproblematik durch Effekte der Baby-Boomer-Generation: Nahende Renteneintritte müssen durch Berufseinsteiger kompensiert werden.
Arbeitsmarktreserve schmilzt auf 0,7 Prozent
2023 gab es mehr als 25.000 professionell Pflegende in Mecklenburg-Vorpommern. Rund 5.400 von ihnen erreichen in den nächsten zehn Jahren das Renteneintrittsalter, das sind 21,5 Prozent. Dieser Ersatzbedarf beschreibt dabei ausschließlich, wie groß die Lücke netto ist. Der tatsächliche Bedarf dürfte vor dem Hintergrund einer kontinuierlich wachsenden Zahl pflegebedürftiger Menschen noch weitaus größer sein. „Wir schätzen, dass in den nächsten 25 Jahren rund 2,3 Millionen Menschen bundesweit mehr als heute auf pflegerische Unterstützung angewiesen sein werden“, sagt Studienleiter Prof. Dr. Thomas Klie. Laut DAK-Landespflegereport schmilzt in MV die Arbeitsmarktreserve in der beruflichen Pflege bis 2030 auf 0,7 Prozent ab. Für 2024 liegt die Prognose bei 143 Renteneintritten, denen 831 Berufseinsteiger gegenüberstehen – das entspricht einer Arbeitsmarktreserve von 2,6 Prozent. 2030 geht die Reserve auf 192 Kräfte zurück, was 0,7 Prozent entspricht. „Wir haben trotz guter Ausbildungszahlen keinen Puffer gegen die berufsdemografischen Dynamiken in der Pflege“, sagt Pflegeexperte und Studienleiter Prof. Thomas Klie. Ein Strukturaufbau der pflegerischen Versorgung, könne angesichts der vorliegenden Kennzahlen allein aus der Qualifikation nicht erfolgen. Werden keine zusätzlichen Ressourcen gewonnen (z.B. durch die Anwerbung von Pflegenden aus dem Ausland), so werden die bestehenden Einrichtungen lediglich Personal ersetzen. „Ein Ausbau der Personalkapazitäten in der Pflege wird demografiebedingt nicht gelingen.“
Starke gesundheitliche Belastungen
Hinzu kommt eine überdurchschnittlich große gesundheitliche Belastung des Pflegepersonals. Vor allem Erkrankungen des Bewegungsapparates und psychische Belastungen waren im Jahre 2022 in Mecklenburg-Vorpommern ursächlich für durchschnittlich 59 Fehltage von Beschäftigten in der Pflege. Zum Vergleich: In anderen Branchen waren es 43 Fehltage. „Die Personalsituation in der Pflege ist alarmierend und wird durch die Renteneintritte der Baby-Boomer vor weitere große Herausforderungen gestellt“, so Hansen. „Diese Situation kollidiert mit den Erwartungen der Pflegenden, durch einen Personal- und Strukturaufbau spürbare Entlastungen zu erfahren. Ebenso mit dem Anspruch, die Auswirkungen der demografischen Entwicklungen der Bevölkerung abzufedern.“
Sorgen um finanzielle Absicherung bei Pflegebedürftigkeit
Steigende Kosten belasten das Pflegesystem zusätzlich: Bereits für das vierte Quartal 2024 zeichnen sich laut Berechnungen im DAK-Pflegereport deutliche Finanzierungslücken ab, die voraussichtlich Beitragssatzerhöhungen noch vor der Bundestagswahl im kommenden Jahr erforderlich machen. Damit einher geht auch die Frage der finanziellen Absicherung der Menschen. Laut einer repräsentativen Umfrage vom Institut für Demoskopie Allensbach im Rahmen des DAK-Pflegereports gaben 48 Prozent der Befragten in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern an, sich Sorgen zu machen, im Fall der Pflegebedürftigkeit ausreichend finanziell abgesichert zu sein. Lediglich 35 Prozent machen sich keine Sorgen. „Die Sorgen der Menschen in Mecklenburg-Vorpommern müssen wir ernst nehmen“, sagt Hansen. „Das von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach im vergangenen Jahr abgegebene Versprechen einer zumindest kurzfristigen Stabilisierung der Pflegefinanzen bis zum Ende der laufenden Wahlperiode ist wohl nicht mehr zu halten.“ Sie fordert ein Konzept, das den wachsenden Finanzbedarf aufgrund steigender Kosten in der pflegerischen Versorgung langfristig absichert. Dies sei essenziell, um das Pflegesystem zukunftsfähig zu machen.
Baby-Boomer: Problem und Lösung zugleich
Neben Finanzierungskonzepten und einer Investition in Assistenzberufe werden auch neue Versorgungsformen notwendig sein: „Die Baby-Boomer sind in der Pflegediskussion das Problem und die Lösung zugleich“, sagt Hansen. Es werde neue Formen gegenseitiger Unterstützung brauchen, um eine solidarische Pflege und Sorge vor Ort sicherzustellen. „Wir als immer älter werdende Gesellschaft benötigen Modelle geteilter Verantwortung‘, die intelligente Verschränkungen von professioneller Pflege, informeller Sorge und zivilgesellschaftlicher Initiative ermöglichen – wie etwa in ambulant betreuten Wohngemeinschaften praktiziert“, so Hansen. Erforderlich seien bürokratische Abrüstung, sektoren- und professionsübergreifende Kooperations- und Versorgungsformen sowie Planung auf kommunaler Ebene. „Eine Mixtur aus nachberuflicher Erwerbstätigkeit und bürgerschaftlichem Engagement könnte vor Ort einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung der Pflegesituation leisten.“ Die Bereitschaft dafür ist vorhanden: Laut Allensbach-Befragung sind in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern 53 Prozent der über 40-Jährigen bereit, Nachbarn, Freunde und Bekannte bei Pflegebedürftigkeit regelmäßig im Alltag zu unterstützen – im Bund sind es 55 Prozent. Zudem brauche es ein flächendeckendes Angebot von Betreuungs- und hauswirtschaftlichen Unterstützungsformen, um pflegende Angehörige zu stärken.