Barrierefreiheit im ÖPNV ist noch lange nicht erreicht
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In Deutschland soll seit 2022 gemäß dem 2013 geänderten Personenbeförderungsgesetz (§ 8, Abs 3) die vollständige Barrierefreiheit im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) erreicht werden. Hiervon ist Deutschland noch weit entfernt. Behindertenverbände kritisieren, dass zu viele Ausnahmeregelungen eine flächendeckende Barrierefreiheit verhindern.
Dabei geht diese Gesetzesänderung zum ÖPNV zurück auf die UN-Behindertenrechtskonvention, wonach die Vertragsstaaten, zu denen seit 2009 auch Deutschland gehört, zu einem Höchstmaß an Barrierefreiheit verpflichtet sind. Der Gesetzgeber räumte den Aufgabenträgern und Ländern aber unter bestimmten Voraussetzungen Ausnahmemöglichkeiten ein, denn die diese stehen vor erheblichen finanziellen und planerischen Herausforderungen.
Auf EU-Ebene kritisiert die Grüne Europaabgeordnete Katrin Langensiepen, Berichterstatterin zum neuen Accessible EU Centre im IMCO Ausschuss. “Durch die UN-Behindertenkonvention, aber auch spezifische EU-Richtlinien wie der European Accessiblity Act oder die EU Webseiten-Richtlinie, sind die EU-Mitgliedsländer zu Barrierefreiheit verpflichtet. An der Umsetzung hapert es aber noch stark.
Ob im Nahverkehr oder im Netz, oft bleibt Menschen mit Behinderungen die Teilhabe immer noch verwehrt. Das ist nicht nur peinlich sondern auch eine Verletzung von Menschenrecht. Auf EU Ebene fordern wir ein starkes neues AccessibleEU Centre, dass sich aus Experten, Menschen mit Behinderungen und nationalen Akteuren zusammensetzt, um Mitgliedstaaten bei der Umsetzung von Barrierefreiheit und Menschenrecht zu unterstützen.
Wir müssen dorthin kommen, dass jedes neue Produkt, jedes neue Gebäude und Transportmittel von Anfang an barrierefrei konzipiert wird. An der Hochschule oder in der Ausbildung muss Barrierefreiheit verpflichtet werden.”
„Eine gute Verkehrspolitik ist der beste Klimaschutz. Dazu gehört auch, dass Bushaltestellen und Bahnhöfe zu guten Orten für Menschen mit und ohne Behinderung werden. Gemeinsam mit den Zweckverbänden unterstützt das Land Städte und Gemeinden bei dieser wichtigen Aufgabe. So machen wir Reisenden und Pendlern ein besseres Angebot im ÖPNV und sorgen zugleich für bessere, sichere und saubere Mobilität in Nordrhein-Westfalen,“ sagte Verkehrsministerin Ina Brande
Der öffentliche Nahverkehr im Saarland stellt Menschen mit eingeschränkter Mobilität vor große Herausforderungen. Der VdK Saarland mehr Anstrengungen für Barrierefreiheit. Im Saarland sind nach Angaben der Deutschen Bahn nur 60 Prozent aller 77 Bahnstationen stufenfrei erreichbar – das ist der letzte Platz im bundesweiten Vergleich (Bundesschnitt: 81 Prozent). „Damit ist das Saarland noch meilenweit vom Ziel eines barrierefreien öffentlichen Personennahverkehrs entfernt, das laut Gesetz 2022 erreicht werden sollte. Menschen mit Behinderungen müssen eine Fahrt mit Bus oder Bahn minutiös planen und können sich dennoch nicht darauf verlassen, ohne Hindernisse oder überhaupt an ihr Ziel zu kommen. Ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist dadurch deutlich eingeschränkt“, sagt der VdK-Landesvorsitzende Armin Lang.
Von den Bahnsteigen sind im Saarland 73 Prozent stufenfrei erreichbar, 13 Prozent weniger als im Bundesschnitt. Allerdings bedeutet stufenfrei nicht barrierefrei, da diese Bezeichnung auf den einzelnen Bahnsteig abzielt. So müssen Rollstuhlfahrer oft weite Umwege in Kauf nehmen, wenn sie einen Bahnsteig wegen eines fehlenden Aufzuges nicht überqueren können, der Bus aber auf der anderen Seite abfährt. Bei den rund 3600 Haltestellen sind nur 60 Prozent teilweise oder weitestgehend barrierefrei.
Zwar wurden im Saarland in den vergangenen Jahren hunderte Haltestellen barrierefrei umgebaut – allerdings laut Rechnungshof teilweise fehlerhaft und nicht den DIN-Normen entsprechend, etwa in Bezug auf die taktilen Leitsysteme. „Menschen mit Sehbehinderung müssen sich auf Blindenleitstreifen verlassen können, stattdessen wurden und werden sie teilweise in Gefahr gebracht. Hier ist es dringend nötig, die zuständigen Verwaltungsmitarbeiter der Kommunen in der Umsetzung von barrierefreien Standards zu beraten und zu schulen, damit solche Fehler nicht wieder passieren. Barrierefreie Normen im öffentlichen Raum müssen zum Standard werden, denn Barrierefreiheit verbessert die Lebensqualität aller. Für manche aber ist sie unverzichtbar, um an der Gesellschaft teilzuhaben“, sagt Lang.
Nur knapp die Hälfte (49 Prozent) der Bahnstationen im Saarland verfügt über taktile Leitsysteme wie Handläufe oder Blindenleitstreifen – bundesweit sind es 51 Prozent. „Die Bedürfnisse von Menschen mit Sehbehinderung werden beim Thema Barrierefreiheit bisher nicht ausreichend berücksichtigt, was dazu führt, dass viele sich nicht trauen, allein mit Bus oder Bahn zu fahren und auf andere Menschen angewiesen sind. Viele bleiben aus Angst zuhause“, sagt Lang. Auch bei taktilen Handläufen an Treppen oder Rampen liegt das Saarland mit 23 Prozent aller Stationen weit hinter dem Bundesschnitt von 49 Prozent zurück. Über dem Schnitt liegt das Saarland hingegen bei markierten Treppenstufen – diese sind an 83 Prozent der Stationen vorhanden (Bundesschnitt: 74 Prozent).
Großer Handlungsbedarf bei Arztpraxen
Neben dem ÖPNV sieht der VdK auch bei der Barrierefreiheit von Arztpraxen einen hohen Handlungsbedarf. So haben bei der Arztsuche der Kassenärztlichen Vereinigung des Saarlandes nur etwa ein Viertel aller Ärztinnen und Ärzte angegeben, dass ihre Praxis über einen stufenfreien Zugang oder einen Behindertenparkplatz verfügt und nur 14 Prozent gaben barrierefreie Sanitäranlagen an. Orientierungen für Sehbehinderte wurden sogar nur von zwei Prozent genannt. Es sei hoch problematisch, dass die Angaben der KV ausschließlich auf Eigenauskünften der Arztpraxen beruhten.
„Das Sozialministerium als Aufsichtsbehörde über die KV muss die von den Arztpraxen selbst veröffentlichten Angaben zur Barrierefreiheit auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen – denn im Vergleich zum Vorjahr gibt es keine Verbesserung. Viele Menschen müssen unnötigerweise ins Krankenhaus, weil sie nicht ambulant versorgt werden können. Die mangelnde Barrierefreiheit trifft nicht nur Menschen mit Behinderungen, sondern auch verstärkt ältere und pflegebedürftige Menschen, die mit zunehmendem Alter in ihrer Mobilität eingeschränkt sind und gleichzeitig immer öfter zum Arzt müssen“, so Lang.